Abbildung 1: Lied Nummer 6 aus dem Rostocker Liederbuch "Eyn hilich dach vnde eyn hilch nacht" (15. Jahrhundert)
Abbildung 2: "In dulci jubilo" aus dem Gasdoncker Adventszyklus: Gaesdonck, Archiv und Klosterbibliothek des Collegium Augustinianum: CAG Hs 14. (Ende 15. Jahrhundert)
Abbildung 3: Diatopische Verteilung der Korpus-Handschriften

Projekttitel

Edition, Übersetzung und Kommentierung von mittelniederdeutschen Weihnachtsliedern des 15. und 16. Jahrhunderts

 

Projektleitung bzw. Projektbeteiligte

  • Prof. em. Dr. Franz-Josef Holznagel (Universität Rostock – Institut für Germanistik)
  • Prof. Dr. Andreas Bieberstedt (Universität Rostock – Institut für Germanistik)
  • Prof. em. Dr. Hartmut Möller (Hochschule für Musik und Theater, Rostock)

 

Förderstatus

Antragstellung in Vorbereitung

 

Laufzeit

vorbereitende Arbeiten seit 2023, geplante Laufzeit ab 2025

 

Ausgangspunkt

Das Projekt setzt an bei der Beobachtung, dass sich im 15./16. Jahrhundert eine spezifisch norddeutsche Tradition des Weihnachtsliedes in niederdeutscher Sprache herausbildet, die häufig im Umfeld der reformierten Frauenklöster gepflegt und weiterentwickelt wird und die in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert ist.

Es handelt sich erstens überwiegend um eine gesungene geistliche Lyrik, die von Frauen für Frauen bereitgestellt wird und die dementsprechend eine spezifisch weibliche Frömmigkeitspraxis dokumentieren. Diese unterscheidet sich unter anderem in der Konzeptualisierung der Gottesmutter sowie in der Wahrnehmung und Bewertung der Gottesgeburt von der Leisen-Tradition, wie sie sowohl von den Liedern „Sijt willekomen, heirre Kirst“, „Lovet sistu ihesu crist“ als auch vom Rostocker Weihnachtslied „Eyn hillich dach vnd eyn hilch nacht“ verkörpert wird.

Zum zweiten ist dieses Liedgut ein Zeugnis für die soziokulturelle Vernetzung des norddeutschen und westmitteldeutschen Raumes mit den Niederlanden. Die Texte und Melodien, die aus den Handschriften der Nonnenklöster stammen, nehmen bei aller Selbständigkeit Anregungen durch die von Geert Groote (1340–1384) in Deventer inaugurierte Erneuerungsbewegung der Devotio moderna auf:

„Liederhandschriften (wie die Deventer Lhs., das Liederbuch der Anna von Cölln, das Werdener Liederbuch und das Liederbuch der Anna Tiers - A.B.) sind „gewiss aus einander verwandten Kreisen hervorgegangen, es sind Blüten derselben mittelalterlichen Geistesrichtung und deshalb beredte Zeugen für die Kultureinheit in den Gegenden westlich und östlich der heutigen niederländischen Ostgrenze.“ (Marie Josepha: Das geistliche Lied der Devotio moderna. Nijmegen 1930, S. 15)

Dieser interkulturelle Austausch ist insbesondere daran abzulesen, dass es für einige sehr prominente Stücke wie „In dulci iubilo“, „Ons is geboren eyn kyndelyn“ oder „Es kommt ein schiff geladen“ Varianten westlich wie östlich des Rheins gibt.

Drittens besitzen die mittelniederdeutschen Weihnachtslieder mit der Ausnahme von „In dulci iubilo“ und „Es kommt ein Schiff geladen“ kaum eine Entsprechung im oderdeutschen Raum. Fassbar wird damit ein sehr charakteristisches nord(west)deutsches Segment der spätmittelalterlichen literarisch-musikalischen Kultur. Hinzu kommt, dass etwa auch im Falle des prominenten Weihnachtslieds „In dulci iubilo“ der nord- und der süddeutsche Sprach- und Kulturraum unterschiedliche Überlieferungstraditionen entwickeln. 

Die meisten dieser zerstreut überlieferten Texte sind für Forschung und akademische Lehre heutzutage nur schwer zugänglich und weitgehend aus dem kulturellen Gedächtnis verschwunden. Dafür gibt es zwei Gründe: Zum ersten wurden mit der Durchsetzung der Reformation lutherischer Prägung die norddeutschen Frauenklöster aufgelöst oder in evangelische Frauenstifte überführt, so dass sich die spezifischen kulturellen Umfelder, in denen diese Weihnachtslieder entstanden sind, auflösten. Zum zweiten dürfte der Übergang der norddeutschen Eliten zur hochdeutschen Schriftsprache, der zum Ende des 16. Jahrhunderts bereits weit vorangeschritten bzw. abgeschlossen ist, dazu geführt haben, dass auch diese spezifische Erscheinung der mittelniederdeutschen Literatur obsolet geworden ist.

 

Ziele und Ablauf

Das Forschungsvorhaben zielt darauf, diese vergessene Liedkunst in mittelniederdeutscher Sprache wieder zugänglich zu machen. Geplant ist eine Sammlung der verstreut überlieferten Stücke, ihre Neuedition mit Transkription und Übersetzung sowie ausführlicher sprach-, literatur- und musikhistorischer Kommentierung und die Einspielung aller mit Melodie verbundenen Lieder durch ein professionelles Ensemble. Solch eine Erschließung historischer Liedbestände ist nur im Rahmen interdisziplinärer Forschungen möglich. Aus diesem Grunde bündelt das Projekt die Expertise von Franz-Josef Holznagel (Germanistische Mediävistik und spätmittelalterliche Liedforschung), Andreas Bieberstedt (Niederdeutsche Philologie) und Hartmut Möller (Musikwissenschaft).

Angestrebt wird eine kombinierte digitale und konventionelle gedruckte Präsentation (Studienausgabe). Letztere orientiert sich an den Konventionen der „Mittelniederdeutschen Bibliothek“.

 

Korpus

Das Korpus umfasst gegenwärtig 33 Texte, die mehrfach in stark abweichenden Varianten bezeugt sind, und 17 Melodien. Der Überlieferungszeitraum umgreift knapp 250 Jahre, der früheste Überlieferungsträger stammt aus der Mitte des 14. Jh., der jüngste Überlieferungsträger aus dem Jahre 1588. Die Mehrzahl der Texte fällt damit in die mittlere (‚klassische‘) und späte Phase des Mittelniederdeutschen. Der Schwerpunkt der Überlieferung liegt in der 2. Hälfte des 15. Jh. und im 16. Jh., insgesamt 17 Liedtexte stammen aus der 2. Hälfte des 16. Jh.

 

Publikationen, Vorträge, wissenschaftliche Veranstaltungen zum Projekt

  • Andreas Bieberstedt / Franz-Josef Holznagel / Hartmut Möller: „‘Nú singget vnde weset fro.‘ Mittelniederdeutsche Weihnachtslieder des 15. und 16. Jahrhunderts.“ Vortrag auf der 136. Jahrestagung des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung, Gent, 22.5.2024.
  • Andreas Bieberstedt / Franz-Josef Holznagel / Hartmut Möller: „Mittelniederdeutsche Weihnachtslieder.“ Vortrag auf der Tagung Pomerania cantat. Liedkultur im Ostseeraum vom Spätmittelalter bis in die Barockzeit, Greifswald, Rostock, 7.6.2023
  • mehrere Projektseminare am Institut für Germanistik der Universität Rostock (F.-J. Holznagel & A. Bieberstedt: SoSe 2022, WS 2022/23)