Forschungsschwerpunkt

„Linguistische Sprachbiographieforschung“

 

Zum Begriff Sprachbiographie

Gewährsperson A: „Aber wie gesacht, wenn ich so mit meinen Kindern schnack, das war damals schon in der Schule, die haddn echte Probleme, wenn die nur Platt schnacken konnten. Nä! Die konnten nicht mal Deutsch schreiben. Weil die in dieses Plattdeutsche dann immer so reingerutscht sind, da konnte man ja leichter schreiben. Oh Mann, oh Mann! Nä! ((lacht)) [...] Und das war an und für sich, diss iss auch die Problematik mit den Kindern geworden, das wir uns ganz umgestellt haben. Auf Hochdeutsch. [...] Weil, wir hamm richtich Probleme gehabt mit der Rechtschreibung in der Schule, mit dieses alte verdammte Platt! ((lacht)) Ja, iss so! Die anderen rundherum, die haben alle Hochdeutsch gesprochen, die konnten Diktate schreiben, und wir standen da immer wie doof. [...]“ 

 

Gewährsperson B: "Ich bin über mehrere Schulen gegangen, [auf der] Realschule war dann Plattdeutsch im Grund überhaupt kein Thema mehr. Das war geradezu verpönt in den 60er Jahren, denn derjenige, der Plattdeutsch sprach, der war nicht nur vom Lande, der war von gestern. Also Plattdeutsch wurde da garnicht gesprochen. [...] Und wenn wir dann, soweit wir noch untereinander Plattdeutsch gesprochen haben, so ein bisschen scheel angeguckt wurden, dann hat das schnell nachgelassen. Das heißt, im Grunde haben wir uns selber dann das Plattdeutsche im Rahmen unserer Schule sehr schnell abgewöhnt eigentlich. Das war nicht en vogue. Das sprach man nicht zu der Zeit."

Interviewer: "Sie meinen das generell?"

Gewährsperson B: "Nein! Also, sobald man aus der Schule heraus war und war wieder in seiner gewohnten Umgebung zurück, war es natürlich wieder da. Also es wurde deshalb nicht vergessen oder verlernt. Nein, nein. [...] Also in der Schule war das Plattdeutsche nicht gefragt. Das war die Sprache derjenigen, die vom Lande kamen, die sollen es auch auf dem Lande reden, so wie sie wollen, aber in der Schule sprechen wir bitte Hochdeutsch! Das war so."

(Auszüge aus zwei sprachbiographischen Interviews mit niederdeutschkompetenten Gewährspersonen aus Hamburg-Kirchwerder, männlich, ortsfest, Altersgruppe 56-60 Jahre. Erhebungszeitpunkt: 2005. Erzählte Zeit: 1960er Jahre)

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Sprachbezogene Erfahrungsberichte wie die oben zitierten Erzählungen zweier Hamburger Dialektsprecher über ihre Schulzeit konturieren die Sprachbiographie eines Individuums. Als „Sprachbiographie“ wird in der linguistischen Forschung eine spezielle Form von Biographie bezeichnet, die den sprachlichen Lebenslauf eines Individuums, das heißt seine essentiellen sprachprägenden, sprachverändernden und sprach­bezogenen Aktivitäten, Erlebnisse und Statusübergänge, kognitiv verarbeitet und narrativ vermittelt. Lebenslauf und Biographie werden hierbei im Anschluss an die soziologische Forschung als disparate, aber aufeinander bezogene Konzepte betrachtet. Während (sprachliche) Lebensläufe demnach als reale Lebensverläufe und soziale Tatsachen zu verstehen sind, können (Sprach)biographien als deren subjektive Reflexion aufgefasst werden.

Sprachbiographien sind kognitive Konstrukte, die eine identitätsstiftende Funktion besitzen. Jedes Individuum entwirft rückschauend eine Biographie des eigenen Lebens, die diesem eine Ordnung zuschreibt und es als sinnhafte Ganzheit erscheinen lässt. Die eigene sprachliche Entwicklung, die verschiedenen sprachlichen Umbruch- und Konfliktsituationen - etwa der Eintritt in die schulische Sprachwelt (wie bei unseren beiden oben zitierten Dialektsprechern) oder migrationsbedingte Wechsel der sprachlich-sozialen Umgebung -, sprachbezogenen Handlungen und Entscheidungen werden dabei in einen Sinnzusammenhang gestellt, der ihnen Kohärenz und Kausalität zuschreibt und sie zu einer konsistenten sprachlichen Lebensgeschichte ausbaut. Mit Hilfe solcher sprachbezogener Biographisierungsprozesse modelliert das Individuum seine sprachliche Identität, versichert sich ihrer oder modifiziert sie.

Sprachbiographische Erzählungen stellen folgerichtig Rekonstruktionen ver­gangener Erlebnisse, Ereignisse und Erfahrungen aus der Gegenwart heraus dar. Sie beleuchten und interpretieren die Vergangenheit aus der Perspektive der zum aktuellen Erzählzeitpunkt bestehenden Lebensauffassungen, Wertvorstellungen und Deutungsmuster einer Person. Sprachbiographien sind damit dynamische, das heißt sich permanent verändernde und fortentwickelnde Konstrukte.

Sprachbiographien sind zugleich nicht allein kognitive, sondern immer auch kommunikative Konstrukte, die einem realen oder (mit)gedachten Gegenüber schriftlich oder mündlich erzählt werden. In sprachbiographischen Tiefeninterviews - der bevorzugten Erhebungsmethode der Sprachbiographieforschung - entfaltet sich die Sprachbiographie einer Person in einer kommunikativ-sozialen Interaktion zwischen Erzähler und Hörer bzw. Interviewer. In diesem Prozess erfährt die Sprachbiographie eine nochmalige Bearbeitung im Sinne einer Wichtung und Selektion, aber auch Neubewertung sprachrelevanter Ereignisse, Konstellationen und Wissensbestände sowie einer Reorganisation und Rekomposition der Biographiebestandteile. Verantwortlich hierfür zeichnen zum einen sprachlich-kommunikative und personale Faktoren. Sowohl die von der konkreten Sprache vorgegebenen Möglichkeiten als auch die Berücksichtigung globaler Diskursstrategien und Erzählmuster beeinflussen die Art und Weise, in der ein Individuum seine Sprachbiographie sprachlich aufbereitet. Einen weiteren Einflussfaktor stellen dessen individuelle kommunikative Kompetenzen und erzählerischen Fähigkeiten dar. Auch die jeweilige Disposition des Erzählers beeinflusst seine narrative (Selbst-)Präsentation. Zum andern ist es die konkrete Kommunikationssituation selbst, die die biographische Erzählung konturiert. So beeinflusst etwa die angenommene Erwartungshaltung des Interviewers in starkem Maße das Erzählte oder eben auch auch Nicht-Erzählte.

 

Sprachbiographien als linguistischer Forschungsgegenstand

Sprachbiographien stehen im Zentrum der noch recht jungen Fachdisziplin der linguistischen Sprachbiographieforschung. Mit ihrer Konzentration auf die individuelle Erfahrungswelt von Sprechern lässt sich diese Sprachbiographieforschung einem qualitativen Forschungsparadigma zuordnen und steht im Kontext einer sprecherzentrierten Linguistik / Dialektologie, die nicht die Sprechergruppe (wie die Soziolinguistik), sondern den individuellen Sprecher und dessen Wahrnehmungen fokussiert. Nach der Etablierung sozio- und pragmalinguistischer Ansätze in den 1970er Jahren bildet die Sprachbiographieforschung zusammen mit der Perzeptionslinguistik bzw. der Wahrnehmungsdialektologie einen weiteren der sogenannten „linguistic turns“. Allerdings bezwecken auch sprecherzentrierte Untersuchungen durchaus eine Übertragbarkeit des sprachbiographischen Einzelfalles auf die untersuchte Sprechergruppe, das sprachlich-soziale Milieu oder die Sprachregion, der das Individuum jeweils zugehörig ist, und lassen in dieser Hinsicht Bezüge zur soziolinguistischen Forschung erkennen.

Seit dem beginnenden 21. Jahrhundert begannen sich in der germanistischen Linguistik sprachbiographische Ansätze zunehmend zu etablieren. Aktuell werden sie vor allem in der Spracherwerbs-, der Mehrsprachkeits- und der Regionalsprachenforschung eingesetzt. Von linguistischem Interesse sind hierbei in besonderem Maße  Sprachbiographien in Kontext von Mehrsprachigkeit und Migration, die von lebensgeschichtlichen und damit auch sprachlichen Veränderungen und Brüchen gekennzeichnet sind, etwa wenn Sprecher migrationsbedingt mit einer neuen sprachlichen Umgebung konfrontiert sind und neue kommunikativ-soziale Herausforderungen bewältigen müssen. Aber auch politische Umbrüche, wie etwa die Wende in den Jahren 1989 und 1990, können die Sprachbiographie einer Person massiv beeinflussen (vgl. dazu die Arbeiten von Ulla Fix). In der Regionalsprachenforschung sind es die individuellen Erfahrungen von Sprechern mit hochdeutsch-dialektaler Mehrsprachigkeit, die im Fokus stehen. Konkret auf den norddeutschen Sprachraum mit seiner historisch gewachsenen, hochdeutsch-niederdeutschen Diglossie bezogen, sollen sprachbiographische Untersuchungen vor allem subjektive Erfahrungen und Bewertungen von Sprachwandel und Sprachverdrängung herausarbeiten und in der Zusammenschau Mechanismen des rezenten Sprachwandels in Norddeutschland aufdecken bzw. besser verstehbar werden lassen.

 

Eigene Forschung zum Thema

Meine eigenen sprachbiographischen Forschungsschwerpunkte sind zum einen Sprachbiographien Hamburger Dialektsprecher, zum andern die Theorie und Methodik sprachbiographischer Forschung.

Im Rahmen des Forschungsprojektes „Hamburgisch-Sprachkontakt und Sprachvariation im städtischen Raum“ an der Universität Hamburg habe ich zwischen 2005 und 2007 die sprachlichen Kompetenzen, den Sprachgebrauch und die sprachlichen Wahrnehmungen niederdeutscher Dialektsprecher im Hamburger Ortsteil Kirchwerder an der südöstlichen Peripherie der Metropole untersucht und in diesem Zusammenhang über 100 sprachbiographische Tiefeninterviews sowohl mit den Dialektsprechern selbst als auch mit für die örtliche Sozialstruktur relevanten Personen wie Ortsvorstehern, Pfarrern, Leitern der örtlichen FFW sowie Künstlern geführt. Neben dem Aufdecken von Regularitäten des Sprachwandels in der urbanen Peripherie Hamburgs dienten diese Aufnahmen auch der Rekonstruktion der lokalen Sprachgeschichte Kirchwerders bzw. der Vierlande im Sinne einer Oral Language History.

Eine kurze Projektbeschreibung dazu findet sich in: Bieberstedt, Andreas / Ruge, Jürgen / Schröder, Ingrid: Hamburgisch. Sprachkontakt und Sprachvariation im städtischen Raum. Die Forschungsprojekte „Altenwerder“ und „Kirchwerder“. In: Niederdeutsch in der Wissenschaft. Aktuelle Projekte und Lehre. Hrsg. v. Bundesrat för Nedderdüütsch und Niederdeutschsekretariat, Hamburg 2020, S. 26-29.

Im Zusammenhang mit diesen Erhebungen habe ich mich in den vergangenen Jahren auch mit Theorie und Methodik der linguistischen Sprachbiographieforschung auseinandergesetzt, so unter anderem mit der Frage, was Sprachbiographien überhaupt sind und ob und wie sich der sprachbiographische Einzelfall verallgemeinern lässt und ein Vergleich der einzelnen sprachbiographischen Schilderungen Aufschlüsse sowohl über prototypische sprachliche Lebensverläufe in ihrer sprachlich-sozialen Kontextualisierung als auch über gruppenspezifische sprachbezogene Konzeptionen, Deutungsmuster und Einstellungen zu liefern vermag.  

Meine sprachbiographischen Forschungsergebnisse sind in mehreren umfangreicheren Aufsätzen dokumentiert. Zudem habe ich zusammen mit der Linguistin und dem Linguisten Lea Kenzler und Klaas-Hinrich Ehlers im Juni 2021 einen mehrtägigen wissenschaftlichen Workshop zum Thema „Linguistische Sprachbiographieforschung: Herausforderungen und Perspektiven eines aktuellen Forschungsparadigmas“ durchgeführt. Auf der Basis der Workshopbeiträge entsteht derzeit ein wissenschaftlicher Sammelband „Linguistische Sprachbiographieforschung: Herausforderungen und Perspektiven eines aktuellen Forschungsparadigmas“, der von mir zusammen mit meinen Kolleginnen und Kollegen Ingrid Schröder, Lea Kenzler und Klaas-Hinrich Ehlers herausgegeben und 2024 im Verlag Peter Lang erscheinen wird.   

 

Publikationen, Vorträge, wissenschaftliche Veranstaltungen zum Projekt

  • Bieberstedt, Andreas / Ehlers, Klaas-Hinrich / Kenzler, Lea / Schröder, Ingrid (Hrsg.): Linguistische Sprachbiographieforschung: Herausforderungen und Perspektiven eines aktuellen Forschungsparadigmas (Sprache in der Gesellschaft. Beiträge zur Sprach- und Medienwissenschaft). Berlin u. a. 2024. Im Erscheinen.
  • Online-Workshop „Linguistische Sprachbiographieforschung: Herausforderungen und Perspektiven eines aktuellen Forschungsparadigmas“, Rostock, 25. bis 26. Juni 2021
  • Bieberstedt, Andreas / Ruge, Jürgen / Schröder, Ingrid: Hamburgisch. Sprachkontakt und Sprachvariation im städtischen Raum. Die Forschungsprojekte „Altenwerder“ und „Kirchwerder“. In: Niederdeutsch in der Wissenschaft. Aktuelle Projekte und Lehre. Hrsg. v. Bundesrat för Nedderdüütsch und Niederdeutschsekretariat, Hamburg 2020, S. 26-29.
  • Bieberstedt, Andreas: Sprachlicher Lebenslauf und Sprachbiographie: Versuch einer sprachbiographischen Modellbildung. In: Jürgens, Carolin / Schröder, Ingrid (Hrsg.): Sprachliche Variation in autobiographischen Interviews. Theoretische und methodische Zugänge (Sprache in der Gesellschaft; 35). Frankfurt a. M. 2017, S. 47-80.
  • Bieberstedt, Andreas: „Das hieß dann, die können kein richtiges Deutsch in der Schule.“ Autobiographische Äußerungen Hamburger Dialektsprecher zu ihrer schulischen Sprachsozialisation. In: Bieberstedt, Andreas / Ruge, Jürgen / Schröder, Ingrid (Hrsg.): Hamburgisch. Struktur, Gebrauch, Wahrnehmung der Regionalsprache im urbanen Raum (Sprache in der Gesellschaft; 34). Frankfurt a. M. 2016, S. 251-306.
  • Bieberstedt, Andreas: „In meinem Elternhaus wurde nur Plattdeutsch gesprochen.“ Sprachbiographische Konzeptionen Hamburger Dialektsprecher zum frühen Spracherwerb. In: Langhanke, Robert (Hrsg.): Sprache, Literatur, Raum. Festgabe für Willy Diercks. Bielefeld 2015, S. 205-237.

 

Literatur zum Thema

  • Fix, Ulla: „Sprachbiographien als Zeugnisse von Sprachgebrauch und Sprachgebrauchsgeschichte. Rückblick und Versuch einer Standortbestimmung.“ In: Zeitschrift für Lieteraturwissenschaft und Linguistik 160 (2010), S. 10–28.
  • Fix, Ulla/Barth, Dagmar: Sprachbiographien. Sprache und Sprachgebrauch vor und nach der Wende von 1989 im Erinnern und Erleben von Zeitzeugen aus der DDR. Inhalte und Analysen narrativ-diskursiver Interviews. Frankfurt a. M. 2000.
  • Fuchs-Heinritz, Werner: Biographische Forschung. Eine Einführung in Praxis und Methoden. 4. Aufl. Wiesbaden 2009.
  • Jürgens, Carolin / Schröder, Ingrid (Hrsg.): Sprachliche Variation in autobiographischen Interviews. Theoretische und methodische Zugänge (Sprache in der Gesellschaft; 35). Frankfurt a. M. 2017.
  • Tophinke, Doris: „Lebensgeschichte und Sprache. Zum Konzept der Sprachbiografie aus linguistischer Sicht.“ In: Bulletin suisse de linguistique appliquée 76 (2002), S. 1-14.