Friedrich Wiggers Schulgrammatik aus dem Jahre 1859

Projekttitel

„Mecklenburgsches Hochdeutsch, Landeshochdeutsch, Missingsch - Struktur, Dynamik und Status der regionalen Umgangssprache Mecklenburgs im 19. Jahrhundert. Eine korpusbasierte Studie.“

 

Projektleitung und Projektbeteiligte bzw. Kooperationspartner

Einzelprojekt (A. Bieberstedt)

 

Förderstatus

keine Förderung beantragt

 

Laufzeit

2022 - 2025

Der Projektabschluss in Form einer Monographie ist für Ende 2025 geplant.

 

Ausgangspunkt

„Süh mal einer mich an, Andreeßing!“ säd min Möhme un twinkelt’ mit de Ogen. „Büst du mich auch da, Kinting? Ungebeten Gästen hören mich eigentlich, ich will nich sagen wo. Na, dat is mich man schön, daß du auch da wärest. Hättest du mich auch die Beine gut an die Matte baußen abgepeddt? Du hättest mich immer so viel Müll an deine Sohlen, Kind, gänzlich abgesehen von Pick und Teer; ich weiß nich, wo du mich das man immer herbringen tätest. Da kuck mich mal Euchaching an!“ aus: John Brinckman (1814-1870): „Kasper Ohm un ick“ (1855)      

Sprachliche Äußerungen wie das obige Beispiel aus der Erzählung „Kaspar Ohm un ick“ (1855) des mecklenburgischen Autors John Brinckman lassen sich als Realisierungen einer mecklenburgischen Umgangssprache beschreiben, die im 19. Jahrhundert von einem zunehmenden Teil der Bevölkerung im sprachlichen Alltag verwendet wird. In zeitgenössischen literarischen, linguistischen und sprachdidaktischen Quellen läuft diese heterogene regiolektale Varietät unter Bezeichnungen wie Missingsch, Landeshochdeutsch, hochdeutsche Umgangssprache, messingsches Hochdeutsch oder mecklenburgsches Hochdeutsch. Trotz ihrer kommunikativen Relevanz ist diese historische Sprachvarietät bislang nur äußerst unzureichend aufgearbeitet, und zwar sowohl hinsichtlich ihrer Struktur als auch in Hinsicht auf ihre Variation und Verwendung. Auch ihre Stellung innerhalb des zeitgenössischen mecklenburgischen Varietätengefüges ist derzeit noch unbestimmt. Die wenigen vorliegenden Studien beschränken sich weitgehend auf literarische Präsentationsformen der mecklenburgischen Umgangssprache, sind wenig systematisch und basieren auf einer äußerst schmalen und zudem einseitigen Datenbasis. Für diese prekäre Forschungslage lassen sich mehrere Gründe anführen:

Linguistische Studien zur regionalen Sprache in Mecklenburg in Form von Sprachatlanten, Grammatiken und Wörterbüchern konzentrieren sich im 19. Jahrhundert nahezu ausschließlich auf die Darstellung der niederdeutschen Basisdialekte, die im zeitgenössischen Diskurs als die „reinen“, „unverfälschten“ Dialekte betrachtet werden und als deren Domäne insbesondere der ländliche und kleinstädtische Raum angesehen wird. Zeitgenössische hochdeutsche Grammatiken wiederum zielen ihrerseits auf die Darstellung einer möglichst „reinen“, von regionalen Interferenzen freien Literatursprache ab. Regiolektale Varietäten und Sprechlagen zwischen diesen beiden Polen werden dagegen als „unreine“ und „vermischte“ Sprachformen abqualifiziert, deren Verwendung als inkorrekter Sprachgebrauch sowie als Ausdruck mangelnder Bildung stigmatisiert ist. In den einschlägigen linguistischen Abhandlungen und metasprachlichen Äußerungen finden sie daher lediglich kursorisch Erwähnung. Wir befinden uns somit in einem der Forschung bislang kaum zugänglichen Bereich der historischen Mündlichkeit Mecklenburgs. Jüngere Untersuchungen konzentrieren sich auf den literarischen Gebrauch regiolektaler Formen in Gestalt des „Missingsch“. Diese Dominanz literarischer Überlieferungsträger birgt allerdings ein signifikantes forschungsmethodisches Problem. Literarische Texte zeichnen sich durch einen ästhetisch geformten und inszenierten Sprachgebrauch aus, der die Frage nach einer möglichen „Überzeichnung der Sprachwirklichkeit“ (Wilcken, Historische Umgangssprachen zwischen Sprachwirklichkeit und literarischer Gestaltung, 2015, S. 341) stellen lässt. Die in literarischen Korpora zu beobachtende Merkmalsausprägung und -variation ist somit nicht allein diatopisch, diachron oder diastratisch motiviert, sondern immer auch das Ergebnis literarischer Strategien.   

Als Konsequenz muss der linguistische Kenntnisstand hinsichtlich Struktur, Variation, Verwendung und Bewertung der mecklenburgischen Umgangssprache als äußerst unzureichend betrachtet werden. An diesem Desiderat setzt das Projekt an.  

 

Ziele

Ziel des Projektes ist es, die historische mecklenburgische Umgangssprache anhand einer umfassenden, zum Teil neuartigen Datenbasis empirisch zu beschreiben. Im Blickpunkt stehen Struktur und Dynamik dieses historischen Regiolekts um die Mitte des 19. Jahrhunderts, wobei der Blick auf das nachfolgende 20. Jahrhundert sowie die vorangehende Wende vom 18. zu 19. Jahrhundert den Forschungsfokus um eine diachrone Perspektive erweitern soll. Zu diesem Zweck wurde ein Korpus aus literarischen und sprachdidaktischen Texten des 19. und ausgehenden 18. Jahrhunderts zusammengestellt. Die diatopische Perspektivierung auf das 20. Jahrhundert und beginnende 21. Jahrhundert erfolgt durch Auswertung der entsprechenden Forschungsliteratur, unter anderem der Angaben bei Dahl (1974), Kehrein (2012), Ehlers (2018/2022) sowie im ersten Band des „Nordeutschen Sprachatlas“.   

 

Korpus

An literarischen Texten wurden Werke der mecklenburgischen Autoren John Brinckman und Fritz Reuter herangezogen. Während der Sprachgebrauch des populären Schriftstellers Reuter bereits mehrfach untersucht wurde und auch in der Abhandlung von Wilcken (2015) erfasst ist, fanden regiolektale Sprachformen in den Texten Brinckmans bislang kaum Berücksichtigung, obgleich diese zahlreich sind und von einem umfangreicheren Figureninventar vorliegen. Systematisch extrahiert und annotiert wurden bislang die regiolektalen Formen in den Texten Brinckmans, die Auswertung der Reuter-Texte erfolgt fortlaufend.

Als primäre sprachdidaktische Quelle dient eine hochdeutsche Schulgrammatik aus dem Jahre 1859, mit der Schweriner Gymnasialschüler an einen korrekten Gebrauch des Hochdeutschen herangeführt werden sollten. Interferenzphänomene im zeitgenössischen regionalen Hochdeutsch werden in dieser Grammatik als Einfluss des mecklenburgischen Dialektes beschrieben und korrigiert und können daher im Umkehrschluss als Merkmale eines mecklenburgischen Regiolekts um die Mitte des 19. Jahrhunderts gelesen werden. Möglich wird dies durch die Anlage des Lehrwerks als kontrastive Grammatik, in die niederdeutsche Formen aufgenommen sind, die aus der praktischen Lehrerfahrung des Verfassers, des mecklenburgischen Gymnasiallehrers Friedrich Wigger (1825–1886), heraus zu sprachlichen Fehlleistungen im Schriftdeutschen sowie bei dessen Aussprache führen konnten. Aufgrund ihrer Konzeption darf diese Schulgrammatik als ein wichtiger Ausgangspunkt für die Tradition kontrastiver Lehrwerke zum Niederdeutschen gelten, die etwa 120 Jahre später ihren Abschluss in der Reihe Dialekt–Hochsprache kontrastiv finden soll.  Die von der Sprachwissenschaft bislang wenig beachteten kontrastiven Sprachlehren, Unterrichtsmaterialien und weitere sprachpädagogische Schriften für oder über dialektsprechende Schüler, die seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts in Norddeutschland in zunehmender Anzahl publiziert werden,  stellen ein vielversprechendes Quellenkorpus für die Erforschung der historischen Mündlichkeit im niederdeutschen Sprachraum und der diachronen Varietätendynamik im Feld zwischen Basisdialekt und Standardsprache dar. 

Die systematische Analyse von Wiggers Schulgrammatik zeigte regiolektale Formen in insgesamt 67 lautlichen, morphosyntaktischen und lexikalischen Kategorien, wobei die Kategorien unterschiedlich umfangreich sind und von einzelnen Sonderformen bis zu Sammelkategorien reichen.  Insbesondere die Sammelkategorien zum abweichenden Genus der Substantive im Hochdeutschen und Niederdeutschen sowie zu autochthonen niederdeutschen Lexemen nehmen großen Umfang ein (vgl. untenstehendes Beispiel). Damit kann dieser Grammatik eine außerordentliche Signifikanz für die Rekonstruktion der historischen mecklenburgischen Umgangssprache zugesprochen werden. Zugleich ermöglicht das Datenmaterial eine Überprüfung der Reliabilität regiolektaler Daten aus literarischen Quellen (dazu Bieberstedt 2024):

„Des Plattdeutschen wegen merke: die Bärme (die Hefe, der Gäscht), der Blutegel (dé Ihl), der Bohrer, der Bult (Bulten), die Butte (Fisch), die Darre, die Deichsel, die Distel, die Dohle (den Klâs), die Drossel, die Elster (den Héster), das Ende (nie der), die Fläche (dat Flach) [...] der Flügel (dé Flünk) [...]“ (Wigger, Hochdeutsche Grammatik, 1859, § 26, 29).    

Neben diesen beiden primären Textbereichen werden ergänzend weitere sprachdidaktische Quellen und metasprachliche Äußerungen herangezogen, wobei die Korpuserstellung noch nicht vollständig abgeschlossen ist. Aus dem Ende des 18. Jahrhunderts wird zum Beispiel eine zweiteilige, in den „Monatsschriften von und für Mecklenburg“ veröffentlichte sprachdidaktische Quelle zur mecklenburgischen Umgangssprache ausgewertet. Die Abhandlung „Ueber das mecklenburgsche Hochdeutsch“ des anonymen Autors zielt darauf ab, dem gebildeten Leser zu vermitteln, „wenn wir doch nun durchaus hochdeutsch sprechen und schreiben wollen, wie wir es rein sprechen und schreiben“ (Anonymus 1789, 954).  Zu diesem Zweck werden drei fingierte sprachliche Interaktionen zwischen Angehörigen der „gehobenen Stände“ , zwei mündliche Gespräche und ein schriftlicher Briefwechsel, abgedruckt, die zahlreiche lautliche, morphosyntaktische und lexikalische Interferenzen aus dem Niederdeutschen (sowie Entlehnungen aus dem Französischen) enthalten. Die jeweils „korrekte“ hochdeutsche Form wird in Fußnoten geliefert. Auch diese Quelle fand bislang in der Forschung keine Berücksichtigung.

 

Literatur:

  • Anonymus (1789/1790): Ueber das mecklenburgsche Hochdeutsch. 2 Teile. In: Monatsschrift von und für Mecklenburg. Schwerin. Teil 1: 2 (1789), 952–960. Teil II: 3 (1790), S. 150–156.
  • Dahl, Eva-Sophie (1974): Interferenz und Alternanz. Zwei Typen der Sprachmischung im Norden der Deutschen Demokratischen Republik. In: Ising, Gerhard (Hrsg.): Aktuelle Probleme der sprachlichen Kommunikation. Soziolinguistische Studien zur sprachlichen Situation in der Deutschen Demokratischen Republik. Berlin, S. 339–387.
  • Ehlers, Klaas-Hinrich (2018/2022): Geschichte der mecklenburgischen Regionalsprache seit dem Zweiten Weltkrieg. Varietätenkontakt zwischen Alteingesessenen und immigrierten Vertriebenen. 2 Teile. Berlin u. a.
  • Elmentaler, Michael/Rosenberg, Peter (2015): Norddeutscher Sprachatlas. Band 1: Regiolektale Sprachlagen. Hildesheim u. a.
  •  Kehrein, Roland (2012): Regionalsprachliche Spektren im Raum. Zur linguistischen Struktur der Vertikale. Stuttgart.
  • Wigger, Friedrich (1859): Hochdeutsche Grammatik mit Rücksicht auf die plattdeutsche Mundart, zunächst für mecklenburgische Schulen bearbeitet. Schwerin: Verlag August Hildebrand.
  • Wilcken, Viola (2015): Historische Umgangssprachen zwischen Sprachwirklichkeit und literarischer Gestaltung. Formen, Funktionen und Entwicklungslinien des ‚Missingsch‘. Hildesheim/Zürich/New York.

 

Publikationen, Vorträge, wissenschaftliche Veranstaltungen zum Projekt

  • Bieberstedt, Andreas (2024): „Mit Rücksicht auf die plattdeutsche Mundart“ – Die Schulgrammatik von Friedrich Wigger (1859) und die regionale Umgangssprache Mecklenburgs zur Mitte des 19. Jahrhunderts. In: Rabanus, Stefan / Elmentaler, Michael (Hrsg.): Korpusanalytische Studien zur historischen Dialektologie (Germanistische Linguistik; 55/2). Baden-Baden. In Druck.
  • Bieberstedt, Andreas (2022): Missingsch. In: Schierholz, Stefan J. (Hrsg.): Wörterbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft (WSK) Online. Begründet von Stefan J. Schierholz und Herbert Ernst Wiegand. Berlin/Boston: de Gruyter. <https://doi.org/10.1515/wsk>.
  • Bieberstedt, Andreas (2021): Eine hochdeutsche Grammatik für Mecklenburger. Friedrich Wiggers Schulgrammatik von 1859 als historische Quelle für die regionale Umgangssprache Mecklenburgs. In: Himstedt-Vaid u.a. (Hgg.): Von Mund zu Ohr via Archiv in die Welt. Beiträge zum mündlichen, literarischen und medialen Erzählen. Münster/New York, S. 71-91.